Heteronyms - ALFRED HARTH, SVEN-ÅKE JOHANSSON, UWE OBERG

Heteronyms (alfred23harth.bandcamp.com): Die Bandcamp-Site von Alfred Harth ist eine Fundgrube für Weisheiten wie „Work is Love made Visible“ – als Überschrift für ein Gedenkkonzert zum 10. Todesjahr von Johnny Dyani, oder „Just like the crackles on vinyl, let's embrace life's imperfections together“  für eine Retrospektive auf das Alfred-Harth-Jazztett 1965. Anlässlich des 80. Geburtstags von Nicole van den Plas im Oktober und von Johansson im November 2023 offeriert A23H als Ständchen ein im August 2007 im Jazz-Institut Darmstadt gespieltes Konzert, das in der Besetzung an EMT anknüpfte, Harths frühes Trio mit den beiden Geburtstags-'Kindern'. Der Titel spielt an auf Fernando Pessoa als Mann mit vielen Gesichtern und Namen, dessen „kreative Vielgesichtigkeit“ sich wiederfindet bei sowohl SÅJ als auch A23H. Pessoa wird mit 'The Whole Moon, Because It Rides So High, Is Reflected In Each Pool', 'Woven Twilight', 'Blurred Portrait of Ricardo Reis?', 'My Soul Is A Hidden Orchestra', 'Followed An Abstract Deliberation Which Immediately Took The Shape Of An Ode', 'Fake Death Of Rafael Baldaya', '5. Januar Ein Mittag Traum', 'Nullity Was A Muse' und 'The Hook of Disquiet' zum Resonanzboten für die von Harth mit Tenorsaxophon, Klarinette, Kalimba, Dojirak, Kaoss Pad, One String Thing, Mouth Harp, von Oberg mit Piano, Inside Piano, Mbira, Xylofon, von Johansson mit Drums & Karton kreierte Musik. Zwischen quiekender, züllender Kakophilie, murxend gesägtem Karton, schmatzender, fauchender und tapsiger Unruhe findet Oberg ebenfalls schnell von quirliger Klimperei zu pickenden und plonkenden Machenschaften. Aber Harth wäre nicht Harth, würde er nicht auch seine sensationelle Artistik als tenoristischer Feuerspucker und inniger Sänger aufstrahlen lassen, Oberg nicht Oberg, würde er nicht bruitistische Unbeschreiblichkeiten mit arpeggierter Poesie konterkarieren. So reiben sich Art Brut und Kinderspiel mit Phantasterei in extented techniques und mit krachverliebtem Gusto. Gefühlvoll geblasene oder gefingerte Klänge sind gut Freund mit schiefen Tönen, geharften und gekratzten Drähten, gewetztem Plastik, monoton gepaukten oder schrottigen Schlägen, und wechseln auch wieder selber auf die dissonante, die 'primitive' Seite. Bis hin zu gepingtem Xylophon und beunruhigendem Noise. [BA 122 rbd]

Foxfur

 ALFRED HARTH greift gern und mit guten Gründen zurück, denn es ist vielleicht doch etwas mehr als nur ein You Must Remember This: Mit „Who Shot the Rabbit?“ verwies er auf Trio Trabant A Roma 1992, mit „Neowise“ auf Gestalt Et Jive 1985, mit „Reklame der Wirklichkeit“ auf dieses Nonett anno 1982, mit „Y Not“ auf The Punkjazz Group 1979. Mit Foxfur (Bandcamp, digital) geht es zurück bis 1973, also zwischen „Just Music“ (ECM, 1969) und „Canadian Cup of Coffee“ (FMP, 1974). Harth hatte Nicole van den Plas, seine Partnerin (neben S.-Å. Johansson) in E. M. T., 1969 bei einem Festival in San Sebastian kennengelernt und mit der belgischen Pianistin erst einige Jahre in einem Kaff bei Ant­werpen gelebt, bevor sie nach Frankfurt zogen, wo sie oft genug hingependelt waren. Was man hier zu hören bekommt, ist hier und da entstanden, mit Harth an ss, ts, bcl, cl, Gong, Nafar, van den Plas an (Inside) Piano (beide zudem mit perc. & voc.), ihrem Bruder Jean an Viola & Harmonica und dessen Frau Liliane Vertessen bei einer Gelegenheit mit tb & tambourine (die beiden kamen ja auch ins Spiel bei E. M. T.). Es hebt mit 'Incantation' so herrlich katzenschräg an, als hätten sie den chinesischen Jackpot geknackt. Mit 'Junge Zugfahrt' kommen Krach und Tempo dazu, Esmeralda tanzt im Intercity mit Tambourin zu Jeans Bluesharp. Nicole stellt Yoko Ono in den Schatten, tobt im Innenklavier, Jean schrappelt die Viola als Banjo, Harth schrillt, was das Zeug hält. Und sopraniert zu Piano­wellen '„…Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilig­nüchterne Wasser.“ (F. Hölderlin)', dass es einem durch und durch geht. Wer glocken­spielt und paukt da bei 'Palazzo' als Art Brut-Bajazzo? Oben kreuzt ein Flugzeug und Kir­chenglocken läuten. 'Foxy Oscillations' zieht mit dem Violabogen bei lebendigem Leib 's Fell über die Ohren, dazu schwillt, geblasen und vokal, ein Dauerdröhnton, doch Klarinet­tenpoesie will davon nichts wissen. Aber 'Late Night Canto' schwelgt weiter, mit Kratze­bogen und schriller Stimme, in diskanter Kakophonie versus Pianoarpeggio und Weiß­clownsax. A.A.C.M. meets Fluxus? Wie konnten DANACH die Punks damit durchkommen, dass SIE Punk erfunden hätten, die 'Dilletanten' damit, dass SIE genial wären? [BA 119 rbd]

 ZZAJ: Jazz from the 23rd Century

 Die Antwort auf Alles ist... 42. Die Antwort auf „What is Jazz and where is it going?“ ist ZZAJ: Jazz from the 23rd Century (discusmusic.bandcamp.com/album/zzaj-jazz-from-the-23rd-century, 2xCD). Die dazu aufgefordert haben, Jazz so auf den Kopf zu stellen, dass es nach Übermorgen klingt, waren Jerry „Cthulhu Moon“ King (Cloud Over Jupiter) & Dave Newhouse (The Muffins), Spielgefährten in Manna/Mirage, dem AmeriCanterbury/RIO-Projekt von Newhouse, und in Kings Moon X. Unter den Ausgewählten sind jede Menge Namen, die einem die Ohren klingeln lassen. Fast wirkt das, womöglich nicht zufällig, wie ein Update des legendären „Recommended Records Samplers“, 40 Jahre danach, von „A Classic Guide To No Man's Land“ (1988) und Cuneiforms „Unsettled Scores“ (1995): Amy Denio (mit Klarinettenschmus, Scat und Rap – remember the Tone Dogs!)! Elliott Sharp (der Guitar-Popeye von Semantics, Carbon, Terraplane, akustisch verzwirbelt mit Piezo und Processor)! Haco (die After Dinner-Legende, örtlich betäubt, mit in Keysklangschwa­den verwehtem Hauch)! Alfred Harth (als Bassklarinettentwister – this is a cool track, man!!)! Marmhelodic Rascals (Henry Kaiser, John Oswald, Jim O'Rourke, Greg Goodman et. al. mit George Cartwrights irrwitzigem 'The March (or Ornette Went Over To Cecil’s House, But Left After About 10 Minutes)' – mit 9 ½ Min. DER Killertrack!)! Nick Didkovsky (Dr. Nerve's Mastermind, mit Han-Earl Park als die gitarristischen 2/3 von Eris 136199)! David Moss (mit seiner Vox Paradiso zu Kalimba- & Beatboxgroove)! Paul Sears (als weiterem Muffin und Onemanband mit einem Lob der Narretei)! Henry Kaiser (mit einer struppigen Lektion darüber, wie Sonny Sharrock, Derek Bailey, Larry Coryell, Pete Cosey und Frank Zappa selbst gegen den 'funny smell' des Jazz angestunken haben)! Geoff Leigh (Henry Cow's Pan mit Compaxident 1 als fetzigem Meta-Saxtrio anno 1987 im No Man's Land mit Byard Lancaster & John Van Rymenant)! Steve Beresford (die direkte Verbindung zwischen Frank Chickens und A23H, mit hintersinnig geklimpertem Yin-Yang)! Frank Chickens (Kazuko Hohki schmust zu Clive Bells Akkordeon)! und Atsuko Kamura (das andere Chicken mit einem Musette-Chanson in ¾-Takt) noch extra. Nur leicht ver­jüngt, wirkt es wie ein Rendezvous alter RIO-Hasen mit Erben dieses Spirits, cisatlantisch mit Martin Archer (mit dem elektronisch durchstochenen Sax-'Song for John Gilmore') und den belgischen Intige Taluure (mit einem surrealen Lovesong in schleppendem Dreh), mit Argument Club (der von Ulrike Meinhoff und Robert Wyatt inspirierte Paul Morris aus Ed­monton, baileyesk zupfend, wonnig harfend, in memory of John Russell), dem argentini­schen Gitarristen Leandro Kalén (als Plural southern-groovy), doch vor allem US-Mave­ricks: Amanda Chaudhary ('Donershtik'-funky mit Calvin Weston, Jamaaladeen Tacuma, Myles Boisen, Steve Adams), Nubdug Ensemble (Jason Berry mit dem hyperkomplexen, chaudharysierten 'Entr'cte'),Dereck Higgins (mit besaxter Blubberelektronik), Pete Prown & Jeff Gordon (als Gitarren-Grifter mit Phantomtrompete), Shawn Persinger is Prester John (ex-Boud Deun, als plunderphonisches Einmanntrio), Anthony Coleman (mit Monk-und Strayhorn-Spirit in tiefblauer Pianotristesse), Brian Woodbury (mit seinem Variety Orchestra und einem Musical-Lobgesang auf New York)! Lunar Asylum(Mikko Biffle als Leftfield-Gitarrengott im Monsterjam mit alten Freunden), Forrest Fang (mit einem March of the Wooden Soldiers), Anthony Pirog (auf knarzig kakophonem Marsch ins Ungewisse), Greg Segal (der Gitarrist von Paper Bag/Bag:Theory als Piano-Drum-Synth-Hydra), Ron Anderson (der Mezcal testende, Bolano bewundernde Gitarrenwürger als Tremolo pi­ckende Panzerabwehrkanone – über alles Molecules!), Tom Djll (der mit unglaublicher Elektro-Trompete 'The Black Bird Bossa' tanzt) sowie Killick Hinds (mit leichthändigem Appalachian Trance Metal). Dave Newhouse selber, der aus Marysocontraryland auch Artwork beisteuert (ebenso wie Pete 'Guitar Garden' Prown in Pennsylvania), bläst mit melancholischem Baritonsax zu gezupftem Cello und Klapperperkussion von Segal. Jerry Kingspielt 'Avalon (For Dereck)' mit Higgins und pustet Posaune zu Poetry von John Shirley (Cyberpunk-Autor, Lyriker für Blue Öyster Cult und Kings Partner bei „Spaceship Landing in a Cemetery“ und „Escape From Gravety“). Festgenagelt on this insane planet in this insane country, wie Ron Anderson auf www.youtube.com/mylungpuppy brummelt, sind wir doch auch darin vereint, dass das Leben dennoch zu kurz ist und all that jazz nicht zu fassen. Und im 23. Jahrhundert? Gegen welchen Scheiß wird 'unser Jazz' als 'last jazz standing' dann wohl anstinken müssen? [BA 118 rbd]

 

NISCHEN

 TASTE TRIBES Nischen (Moloko+, PLUS146): Es scheint kompliziert und hat doch einen roten Faden, ein Mem-Cluster, das durch die Zeit getragen wird. Bei Alfred 23 Harth heißt es 1967 ff 'freie cunst', 'Just Music', „herrschaftsfreie Musik“, es findet sich 1968 bei Conrad Schnitzler und Hans Joachim Roedelius im Zodiak Free Arts Lab (als Brutstätte für Tangerine Dream, Kluster, Ash Ra Tempel, Agitation Free... in der Schaubühne am Halleschen Ufer) in Berlin, 1970 in Hamburg bei Hans Joachim Irmler und Faust, 1982 ff beim Zodiak-Lauscher Wolfgang Seidel in Populäre Mechanik, 1985 ff im Auf-Schlag von Günter Müllers Elektrozeug. Harth fädelte all das auf, 1968 in einer Zodiak-Session, 1983 mit Populäre Mechanik, 1987 mit Müller (live und bei „Plan Eden“), 2007 mit Irmler & Müller („Taste Tribes“), 2010 mit Irmler („Faust is Last“), 2014/15 mit Seidel („Five Eyes“, „Malcha“). 2021 wollten sie bei der „Bildet Nischen!“-Reihe des HAU (Hebbel am Ufer) das Zodiak-Kontinuum evozieren, und Irmler an Keyboard, Müller an iPods & Electronics, Seidel an Drums & Synth taten das auch, Harth, durch Corona ausgebremst, komplettiert Taste Tribe dennoch, mit Sax & Vox von Geisterhand. Für eine Seance, die mit 'Vormärz' das Streben nach Emanzipation und Demokratie und den Geist von Büchner und Heine beschwört, mit 'Schaubühne' und freakrockigem Altissimo wohl Peter Stein, mit 'Zodiak' & 'Eruption' Schnitzler & Co. 'Freiraum' sagt, um was, 'Glutmensch', um wen es geht. In einer elektroakustischen Hochzeit von Sphäre und Feuer, bruitistischem Flux, lyrisch Emotivem, dröhnender Drift, erregtem Puls, flickerndem und orgeligem Flow, coolem Tamtam, pressender, schmauchender Intensität. Harth singt mit Vocoder-Vox Wenn das Plasma schmilzt in deinen Augen... keine Wiederkehr drinnen oder draußen und bläst kosmische Wirbel. Der tribalistische Trip dieser Hitech-Schamanen führt in die Tiefe des Raums und der Zeit, in deren Nischen es glüht, pulst und brodelt, Kaskaden und Protuberanzen glitchen und saxen, melodische Schlieren mischen sich mit polymorpher Expression. 'An Instance of Something that is Grand' bringt nochmal Seidel'sches Tamtam, umwallt von maunzender Bassklarinette. Zuletzt salamandert ein Elektrolurch zu fernöstlichem Lärm, oder sollte ich sagen: zu gelbem Klang? [BA 119 rbd]

Sweet Paris (Reloaded)

 ALFRED HARTH ~ PETER FEY Sweet Paris (Moloko+, PLUS115, 2xCD): Eine Reise, nein, nicht mit dem Fahrrad ohne Licht durchs nächtliche Frankfurt – das wäre Peter Fey allein („Wenn mein Fahrrad Ohren hätte“). Vielmehr ist es eine Zeitreise in die Spät-80er/Früh-90er-Jahre, als Harth in Oh Moscow, Vladimir Estragon oder Trio Trabant a Roma mit Lindsay Cooper und Phil Minton musizierte, aber zugleich Collage, Montage und das Cut-up von Jürgen Ploog und W. S. Burroughs für seine Theater-, Film- und Hörspielmusiken nutzbar machte. Auch in „Sweet Paris“ (Free Flow Music Production, 1991), geschichtet aus poetischen Paris-Eindrücken, die der Karlsruher Künstlerfreund Wolf Pehlke (1955-2013) brieflich mit Harth, dem Mann mit dem Saxofon, geteilt hatte. Daraus gerade­brechte, englisch übersetzt oder einfach so gelesene Zeilen über Untergeher in den Bars, auf dem Friedhof, in der Metro, in Hiroshima-mon-amour-durchschauerten Nächten, in von Hynkels und Dalis Schnurrbärten eingeklammerten Zeiten, hat Harth hörspielerisch vitali­siert mit Pariser Flair und persönlichem Sentiment – auch er hat damals ja Paris durch­streift. Und durchwirkt mit eigenen musikalischen Sedimenten, voller Saxfeuer und Feeling, durch Kassettenmaterial mit u. a. Nicole Van den Plas, Christoph Anders, Peter Kuhlmann aka Namlook, Wolfgang Seidels Populäre Mechanik, La Guardia und Gestalt et Jive, bis zurück zu seinen 'Melancholy Blues'-Anfängen als Teenager. Dazu hatte noch, mixerisch und mit Elektro-Beats, Peter Fey die Finger im Spiel, eine Doppelexistenz aus Arzt der Psychiatrie und Musiker (mit einst Collectionism und jetzt Ugly Species), und mit seinem Tonstudio aufnahmetechnisch involviert bei Gestalt et Jive, Harths Creative Works und Imperial Hoot, Heiner Goebbels, Achim Wollscheid, Rüdiger Carl oder Uwe Oberg bis hin zu Ekkehard Ehlers, Brian Eno, Jan Peter Schwalm und Panacea. Was damals gestalterisch in der Luft lag, als Versuche, Bretons künftiger Schönheit konvulsisch zu entsprechen, hört man von „Anything goes“ bis hin zu „SHADOW / Landscape with Argonauts“ oder Jac Berrocals „Fatal Encounters“. Und besonders schön hier, von 'Pyramides' und 'Oberkampf' bis 'In­valides' und 'Sweet & Bitter Little Death', und allem zum Trotz nicht ohne leise Hoffnung unter von Katzenpfoten getupftem, von Bassklarinette lüftlgemaltem Gewölk.

Samstag-Nacht, während ich beim Freakshow Artrock Festival Ghost Rhythms lauschte, brachte SWR2 „Sweet Paris Reloaded“ - Harth & Fey (+ Van den Plas an Piano & Organ), 30 Jahre später, mit einem brandaktuellen Update. Zu 'Cambodia' und 'Stalingrad' braucht man nur Afghanistan und Mariupol denken. Sie lassen nochmal Sun Ra, Rimbaud und Breton als Kometen aufleuchten, die Nouvelle-Vague-Jahre einer Generation in Zeitraffer vorüberziehen, die Saxflamme an den Gräbern von 'Unsterblichen' aufflackern. Mit melancholischem Singsang und - insgesamt textbetonter - ungehörten Zeilen von Wolf Pehlke, der sich auf dem Hundefriedhof unter Seinesgleichen fühlt, der in wortkargen Nächten Absinth nippt in Gedanken an Komplizen wie Proust, Max Ernst, Oscar Wilde, der sein Glas Wodka erhebt für Colette, Gertrude Stein, Simone Signoret, der unbesiegbaren Afrikanerinnen und Vietnamesinnen nachschaut, selber nur Sklave, Laborratte, Wurm, der sich in trostloser Stille selber frisst. Einfühlend gesprochen ist das von Wolfram Koch (dem Frankfurter Tatort-Ermittler). Friedhöfe verstauben, Philemon und Baucis verwittern, aber Flucht und strandende Rettungsboote haben weiterhin glänzend Konjunktur. Pehlke/Koch beschwört Huysmans, Belmondo, Beckett als von Akkordeon umschillerte Nothelfer, die aber vorwurfsvoll den Finger in Wunden legen. Die Rastignacs machen Karriere, auf ihn, Mann ohne Eigenschaften im existenziellen Exil, Schwindler-Kojote mit wunden Füßen, Statist auf Peter Brooks' leerer Bühne, Voyeur weißer Wände, Hüter weißer Blätter, scheißen die Tauben. Die Zukunft wird blond sein wie Marilyn Monroe und ums Goldene Kalb tanzen, sie wird ein Archiv sein und unter ihrem Gewicht erstarren, sie wird nur noch ein der Addition und Subtraktion unterworfener Haufen von Pixeln sein, sie wird hysterisch, sie wird anarchistisch, sie wird gewesen sein. Und Gottes Ebenbild wird dabei so obdachlos bleiben wie immer schon und überall, erniedrigt und verbraucht, Bodensatz für unsere trockenen Füße und unsere jämmerliche Gemütlichkeit. Dylan wurde nobelgepriesen, die Nürnberger Protokolle zum Arschwisch, doch Pehlkes Briefe, kindlich zum babylonischen Papierturm gestapelt, trotzen dem Vergessen. Und der Vorgeschmack des Glücks und der Vergänglichkeit, er schmeckt am Mundstück der Bassklarinette so bittersüß wie eh.  [BA 116 rbd]

Alfred 23 Harth (Frankfurt/Seoul) 

 Die mit Trio Trabant A Roma, Gestalt et Jive und The Punk Jazz Group (BA109) begonnene Öffnung seiner Archive setzt A23H fort mit Memoria Eschatologica (digital) als Hörstück zu Chernobyl und Erinnerung an die letzten Dinge, Agonie und Tod. Realisiert hat er das 1992 als 23-min. Kladderadatsch aus dramatisch-katastrophisch rhythmisierter Sound Art, zerfetztem Chorgesang, homöopathisch eingerührtem Blockflötenorchester und einem ein Havarieprotokoll sprech-singenden Paar mit dem Frankfurt City Blueser, Kunstdandy, Krankenpfleger und 2020 mit "Frittenmoni" sogar Opernkomponisten August Scheufler. Die Überschrift stammt von Alfreds Bruder Dietrich Harth, einem Spezialisten für Mythos und Ritual als Geburtshelfer von Kultur und Kunst, nämlich dessen 'Versuch über Matthias Grünewalds Isenheimer Altar' (in "Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung", 1991). Die Erinnerung an die 'Dialektik von Produktion und Müll' und ihre agonale Ratio wurde gerade erst mit dem 5-Teiler "Chernobyl" (ProSieben) aufgefrischt. Die Affinität von Kunst zu Trash, Müll, Kontamination ist schon länger so ambivalent wie chronisch. Die Ästhetisierung von Scheiße & Dreck ist ja zugleich ein darin Wühlen, das mit dem Ecce Homo-Fingerzeig von Grünewalds Johannes (als Covermotiv!) auf die - in den Krematorien von Auschwitz zum Äußersten getriebene - 'Logik des Systems' hindeutet: 'Müllverbrennung' als Perpetuum mobile eines Teufelskreises und sine qua non von Wohlstand durch Wachstum, von Gedeih durch Verderb. Das zu 'zerrütten' durch Gegenerinnerungen, Ausgrabungen, dem Lesen verwischter Spuren und sogar Wehtun ist doch das, worum es in BA immer schon geht. Und wird hier - in memoriam 10 Jahre Fukushima und 35 Jahre nach dem 26. April 1986 - exemplarisch vor Ohren gezerrt, mit sarkastischen und grotesken Zügen. Brechts „Glotzt nicht so romantisch!“ ist abgewandelt in „Was nützt das schönste Pathos, wenn alles beim Alten bleibt?“ 

Auf Film and theater music compi II (digital) zu hören sind ALFRED HARTHs Soundtracks für ZDF-Dokus: Zu "Luther und die Deutschen" (1983) über den abergläubischen Mönch ohne Sinn für die tiefere Not seines Volkes (H. Ball) und die als mächtiger Hasser riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens (Th. Mann) - mit Brass und attackierendem Getrommel (Uwe Schmitt) in aufbegehrenden Schüben und mit feierlichem Pomp, als innerer Widerstreit mit kecker Auflösung. Zu "Letzte Vernunft" (1986) über den Alten Fritz und den Krieg als die Ultima Ratio des aufgeklärten Flötenspielers oder despotischen Gerippes der Pflichterfüllung und des Sadismus (wieder H. Ball) - flötenfriedlich, reedschmerzlich, mit Trompete zum Kriegstanz bittend, mit Bassklarinette die Wunden leckend und auf dem letzten Zahnfleisch humpelnd. Sowie zu "Geheime Welten" (1990) über dem Secret Intelligence Service, den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 - Kim Philby und die Cambridge Five? George Blake? Bond, der Name ist Bond? Ach, die Kalten Krieger von Maulwurfshausen - in helldunkles Zwielicht, in zwielichtiges Pathos getaucht, honorige Blender, wühlend für das eine oder andere Vaterland, mit gezinkten Keys, verrauschten Electronics, Saxtristesse. Dazu gibt es ebenfalls mit mehrspurig Reeds, Flutes & Electronics gestaltete Exzerpte seiner Theatermusiken für Fernando Arrabals "Der Architekt und der Kaiser von Assyrien" (Schillertheater Berlin, 1988) - saxelegisch auf driftenden und pulsenden Synthiesound gebettet und aufs Bergeversetzen hoffend. Und für das gut gemeinte Sich-Vergreifen am Ungewöhnlichen in "Elysian Park" nach Marlene Streeruwitz (Deutsches Theater Berlin, 1992) - mit dezisionistischem Keysstakkato, verzerrter, überdrehter Tonbandspur, himmlischem Phantomchor, Kartontamtam, immer wieder lyrischem Gebläse, das die Gefühlsskala beharft, wie es Harth so leicht keiner nachmacht, und zuletzt einer abwechselnd rhythmisch aufgewühlten oder unberührten Dröhnwelle. 

https://alfred23harth.bandcamp.com 

[BA 111 rbd]


"Balance Action" Erwähnung in BA 110

 Der Toningenieur & Sounddesigner RAVIL AZIZOV (1962-2018) ist mit Sergey Karsaev & Orkestrion in den goldenen Annalen der New Music from Russia verzeichnet und hat, kleine Welt, mitgewirkt an "Balance Action" (1992), Karsaevs mitreißenden Film über Alfred 23 Harths Eroberung von Moskau, Lenin- & Stalingrad. Acme (FANCY167) wurde 2017 eingespielt im Red Wave Studio, St. Petersburg, wo Azizov sich den Spaß nicht hatte entgehen las­sen, mit The Grand Astoria, dem dortigen Psychedelic-Prog-Eisbrecher, Klarinette zu blasen. Die Session verzahnt schwindelfrei impulsive und echauffiert krähende Klarinet­ten-Altosax-Trios mit Alexey Kruglov und dem Braunschweig-Tallinn-Pendler Vlady By­strov mit jubilierendem Holterdipolter oder versonnener Tagträumerei zu viert mit dem Drummer Oleg Yudanov. Und zuletzt mit obendrein noch zwei Pianisten besonders inva­siv auf Schleichwegen hin zur crescendierenden Eruption. 

[BA 110 rbd]

Alfred 23 Harth: THE PUNKJAZZ GROUP

 

Die kulturelle Standortqualität ist mittlerweile dAS Bobo-Kriterium. Franfurt am Main hat da gepunktet mit dem Museumsufer, der Städelschule, der Schirn, der Buchmesse, dem Jazzfestival, Jazz im Palmengarten, dem Ballett einst mit Forsyth und Fabre, dem Theater am Turm (bis 2004) mit Stücken von Heiner Goebbels, als Technohotspot mit Sven Väth, Force Inc. Doch als Gunst für Frankfurt hat Alfred Harth sehr schön die treffliche Lage vermerkt mit: im Osten die GI-Clubs mit Jazz, R&B und den Monks, im Süden die Darmstädter Ferienkurse, im Westen die Fluxusbewegung in Wiesbaden, im Norden die documenta in Kassel. Neben dem Duo Goebbels/Harth (1975-1988) machte A23H da mittendrin noch allerhand eigenen Wirbel, meist mit dem zuletzt noch in Gestalt Et Jive involvierten Drummer Uwe Schmitt an der Seite: als Medial Move, im Buschi Niebergall Trio, bei Abrazzo Oper und dem Nontett Reklame der Wirklichkeit.

Und mittendrin - 1979 -, mit noch Christoph Anders - vox, Nicole van den Plas (von E.M.T.) - farfisa organ, Frank Diedrich - bass git. und Peter Kuhlmann - git. in THE PUNKJAZZ GROUP. Für Harth und Anders war das ein Durchlauferhitzer hin zu Cassiber, für Kuhlmann, da noch keine 19, die musikalische Entjungferung. Nicht dran zu denken, dass aus ihm jenseits des Jazzrocks mit Romantic Warrior der ambient-pluriversale FAX-Macher Pete Namlook werden würde. Aber das ist eine andere Geschichte und eine traurige dazu, denn er ist 2012 mit noch nicht mal 52 an einem Herzinfarkt gestorben. Wir reden hier aber von jenen Zeiten, in denen sich Frankfurt statt auf Zoo, Flughafen, Mainhattan oder Mille Plateaux auf Pflasterstrand, Fronttheater und Batschkapp, kurz: auf Sponti-Bewegung reimte und das Sogenannte Links- radikale Blasorchester mit gelben Birnen schmiss.

1979 war nach dem Revoluzzer-, Putztruppler- und Indianer-Sein das Punk-Werden angesagt - "die intelligenteren Ausdrucksweisen von Punk" (also 'Studentenmusik') [faktisch klang's in Ffm wie auf dem Kassetten-Label Walters Lust - Bildstörung (mit Peter Prochir) oder Toto Lotto (mit Anders)...; Eric Hysteric spuckte als Möchtegern-Pop-Analphabet nach Vomit Visions auch mit The Esoterics auf "Späthippies und Möchtegern-Intellektuelle", die 'echten' Punks moschten zu Middle Class Fantasies und Böhse Onkelz im JUZ Bockenheim]. Politik in erster Person, lautete die neue Sponti-Parole. Aber wie geht das, halstief im 'Sumpf', durch die Kommerzmangel gedreht und nix als herbstgraue Wolken überm Scheitel? Ziemlich anders als der Tunix-Sound (Missus Beastly, Embryo, Teller Bunte Knete) und der Trikont-'Stunkfolk'. Und statt post-Stammheim-depressiv mit einem trotzigen Y Not (alfred23harth.bandcamp.com/album/y-not). Mit der Ermutigung wohl durch No Wave und die Funk-Punk-Contorsions von James Chance, mit deklamatorischem Gesang auf Englisch, aber auch schnittig abgezirkeltem Tenorsaxzickzack von Harth & Anders zusammen, knackig rhythmisiert, mit knurrigem Bass, gitarristischen Splitterchen (aber auch bluesrockigen Einwürfen). Als 'Kollision der Genres' und "erkennbare melodische und rhythmische Strukturen" wurde das dann bei Cassiber programmatisch. Anders' Verve, teils spontan artikuliert, streift öfters ans Schreien, ebenso wenn er altissimo fiept zu Harths Bassklarinette und Vokalisation von van den Plas. Simple Muster, rock'n'rollige Anklänge und Seehundcluster oder Zweifingerfarfisa im spöttischen Widerspruch zu Harths Sopranotirili proben, im groovigen Motion-Emotion-Taumel die Nestflucht vom Jazz in ein Mainhattan-Vorgefühl. I was feeling sick / I was losing my mind. / Gimmegimmegimme a shock-treatment / I get happyhappyhappy all the time. Definitiv 'punkig' sind die immer wieder abreißenden Kassettenfetzen aus dem Bunker Bornheim. Das lässt einen flippern von 'Chevrolet' zu Chor- 'Gesang', zum wilden Jam mit Saxfeuer, 10-Finger-Orgel, Psychgitarre und flehend geschrienem So alone So alone (mit zuckenden Störgeräuschen als krassem V-Effekt).

 [BA 109 rbd]

GESTALT ET JIVE - Neowise (almaslakh.bandcamp.com)

 


In den Nachwehen heroischer Phasen ergeben sich oft die ergiebigsten Möglichkeiten. So bietet die Postmoderne als Humpty-Dumpty-Stadium der Moderne die Freiheit, alles Vor­gefallene aposteriorisch aufzubereiten. Das Post- darf dabei nicht schrecken, Post-Punk (und No Wave) z. B. lieferte(n), synkretistisch, sophisticated, der Dynamo schräg gestellt zum Wind der Dinge, definitiv den besseren Punk - denkt an This Heat, The Fall, Wire, Essential Logic, The Pop Group, PIL, D.A.F., The Raincoats, Ludus, Joy Division, The Homo­sexuals, Family Fodder, The Deep Freeze Mice, Laughing Clowns, The Work, Rip Rig + Panic, die Art Bears, The Ex, Massacre... A23H nennt "Es herrscht Uhu im Land“ (1981) als weichenstellend für die Idee, Creative Jazz, Instant Composing, Art Rock und Post-Punk alchemistisch aufzumischen. Mit Cassiber [1982-85], Duck and Cover [1983/84], und 1984-88 mit GESTALT ET JIVE. In Frankfurt wurden da in abgeklärter Könnerschaft die Töpfe für "Nouvelle Cuisine" (1985) erhitzt. Mit dem buntscheckigen Spleen von Steve Beresford (von Alterations, New Age Steppers, The Slits, African Headcharge, Playgroup, The Melody Four...), dem abenteuerlustigen Gewirbel von Anton Fier (The Lounge Lizards, Material, Pere Ubu, Kip Hanrahan, The Golden Palominos, Rhys Chatham, Herbie Hancock...), dem bassistischen Esprit von Ferdinand Richard (Etron Fou Le Loublan, Ferdinand, Fred Frith...) und Uwe Schmitt (Niebergall Trio, Sogenanntes Linksradikales Blasorchester, doch dabei auch schon Redakteur bei der FAZ, später der Welt). Reduziert zum Trio mit nur noch Richard und Peter Hollinger (zuvor Inneratem, danach Uludag) als neuem Drummer entstand "Gestalt et Jive" (1986). Neowise (almaslakh.bandcamp.com) versammelt unver­öffentlichte Livemitschnitte dieses knackigen Free-Form-Powertrios von 1985 mit allem Holterdipolter von Hollinger, stupendem Bass(gitarren)gekrabbel von Richard, und A23H, der an Reeds wieder sein Feuervogelwesen hervorkehrt, aber auch seine davon un­trenn­bare lyrische Ader zeigt. Die Merkwürdigkeiten ab 'Movement 5' rühren her von Beresford als (noch) viertem Element, der mit Farfisa Organ, Piano, Casio, Melodica und Gitarre den Groove einerseits andickt, andererseits freakish zerlegen hilft, wobei A23H da auch mit Posaune & Trompete seine launigen Seiten hervorkehrt. Gipfelnd mit Beresfords Gesang als Tiger Lilly avant la lettre in kaprioligem Klimbim, das A23H aber wieder in wehmütiges Feeling umschlagen lässt. Doch den Schlusspunkt setzt Beresford mit käseorgliger Exotica nochmal poppig. "Anything goes". So hieß ja dann auch Harths 'Sampladelia-cum-plunder­phonic'-Manifest anno 1986. Times have changed / and we've often rewound the clock, für­wahr. Aber Cole Porter hat The world has gone mad today and good's bad today ja schon 1934 konstatiert. Und dennoch passte Just think of those shocks you've got / And those knocks you've got / And those blues you've got / From that news you've got / And those pains you've got / (If any brains you've got) 1985 noch genauso wie es wohl immer passt. A23H got the Blues, als er letzten August von der Explosion im Hafen von Beirut hörte. Und möchte mit der Musik Aufmerksamkeit und Hilfe dorthin lenken. [BA 109 rbd]

TRIO TRABANT A ROMA - Who Shot The Rabbit?

 TRIO TRABANT A ROMA Who Shot The Rabbit? (https://alfred23harth.bandcamp.com): Blues jumped a rabbit, run him one solid mile / That rabbit set down, cried like a natural child. Als Blind Lemon Jefferson das reimte, hatte er noch den Großen Krieg gegen den Kaiser im Hinterkopf. Als Phil Minton es 1992 im Berger Kino in Frankfurt schrie und sang, hatten inzwischen andere Zaren abgedankt, doch Maulesel, die sich vor den Karren (einer Reichsidee, der Selbstverdummung, eines Great again) spannen lassen, die finden sich immer. Wem nun der Corona-Blues im Nacken sitzt, denen bietet Alfred 23 Harth diesen ratzeputzen Sorgenkiller und Kummerwürger, der Minton in vogelschrägster Topform zeigt. Harth an Sax, Bassklarinette, Posaune, Farfisa und Casio und die unvergessliche Lindsay Cooper mit Sax, Fagott und Electronics legten ihm keinerlei Fesseln an und brauchten auch nicht groß trillern und oinken, damit sich sein calibanisches Wesen voll entfaltet. Als Trickster von 'The Trick', als aus Mule und Mole gekreuztes Maultier bei 'The Mole', als Duckburg's Most Wanted bei 'The Sheriff'. Minton hatte damals, neben "Off Abbey Road" mit dem Mike Westbrook Orchestra, den "Songs & Variations" mit dem GrubenKlangOrchester oder den "Songs From A Prison Diary" mit Veryan Weston, weiterhin eine enge Verbindung mit Cooper bei "Sahara Dust" und war durch deren "Oh Moscow" und Vladimir Estragon auch schon gut vertraut mit Harth, der seinerseits mit Heinz Sauer als Parcours Bleu a Deux ins Blaue abhob und 1992 das QuasarQuartet initiierte, mit Simon Nabatov (der wiederum Minton mit gefundenem Fressen wie "Nature Morte" und "Readings - Red Cavalry" versorgt hat). Das märzkälberne Trio Trabant hatte 1991 in den negentropischen Territorien von Esslingen den Stoff zu "State Of Volgograd" (FMP) gefunden. In durch Noise zerrüttetem und mutiertem Postjazz und mit Minton als besessenem Medium, als Polyphem, dem die lebendfrisch gefrühstückte Ente aufstößt. Wie ein Geier, der damit seine Jungen atzt, würgt er unsägliche Laute wie halb verdauten Fraß hervor. Ogottogottgttgtt! Unglaublich, was er da krächzt. Auauauuu!! Unbeschreiblich, wie er da heult, jodelt und pfeift, ungeniert derb und selbstvergessen, zu glissendierendem, waberndem Georgel, beklemmtem oder plärrendem Getröte oder auch twangender Maultrommel, als zugleich cholerischer Donald Duck, brabbelnder Zyklop, Bahßetup-Caruso, Pfiffikus.  [BA 109 rbd]

ALFRED HARTH'S REVOLVER 23 - Kirschblüten mit verstecktem Sprengstoff (Moloko+, PLUS 106)


Moloko-isiert zwischen "Muspilli Rökrökr Mashup" (dem Rückgriff der Papenfuß-Jestram-Joswig-Lippok-Blase auf "Muspilli Spezial - 9 Versionen des Weltuntergangs") und "Gezieferreigen" (wo »Blauholz« von Ditterich von Euler-Donnersperg auf »Triebstruktur und Gesellschaft« von 'Henry' Marcuse trifft), müssen sich A23H & Co. mit ihren ex- plosiven Kirschblüten auf die Hinterfüße stellen. Und tun das auch. Als Klangereignis beim Jazz in Autum Festival im Oktober 2018 im Moskauer 'Dom'. Mit Alfred Harth an Reeds, Stimme & Posaune (con arco?), an der Gitarre Nicola L. Hein (als Honigpumper unter 7000 Eichen wie gesucht und gefunden per 7k Oaks-Detektor), Marcel Daemgen (Harths Partner schon bei Imperial Hoot) als Arbeiter mit künstlicher Intelligenz und Jörg Fischer (der sich bei Daemgen & Harth bereits bei "Confucius Tarif Reduit" eingehenkelt hatte) an den Drums. Dazu mit einem Überbau aus Hegels "Vorlesungen über die Ästhetik" (Das Kunstwerk... als für den Sinn des Menschen... dem Sinnlichen entnommen) so - wie Harths Covergrafik - mit einem (Sternzeichen)-Schützen im periodischen Suizidance, der mit der 23 als im Herzen verstecktem Sprengstoff den Revolver in einen Lover umdreht, zudem nicht wehrlos dank Amors Pfeilen. Als ein Ritter der Revolte und des Lustprinzips, eigentlich ganz in Marcuses Sinn, der ästhetische Erfahrung verficht und die 'Vollkommenheit nachhaltig nährender Erlebnisse' als Modell einer von repressiven Strukturen befreiten Welterfahrung. Frankfurter Schule? Burroughs'sche Shotgun Art? Mit der Verve von Kamikazefliegern losbrausend, als selbstmord-attentäterischer Schauer von Kirschblüten, ergießt sich wilder Free Electric Jazz, und Harth schreisingt dazu koreanische Parolen. Doch dann wird dieser furiose Abwehrzauber gegen die wieder über Korea kreisenden japanischen Vampire abgefangen und elegisch umgekehrt in gedämpfte, fast stumme Klage. Mit Schweb- und Dröhnklängen nun, die tatsächlich nur noch blühen und fallen. Harth singt dazu Freedom, zieht aber mit quäkiger Taepyeongso und rauem Tenorsax das Tempo wieder an. Aufgelöst in Luft, folgt dem ein stupendes Bassklarinettenkunststück - da kann nicht mal Rudi Mahall dem Harth was vormachen - zu pochenden Pixeln und unkendem Quarren, das die 'ka', die Kirschblüten-Bomber (die von den Amis 'Baka' = Idiot genannt wurden), entmaterialisiert zum 'Suizi-Dance'. Als fröhliche Wissenschaft, die, tanzend, dem Todestrieb spottet und dem Realitätsprinzip eine Nase dreht. Hein wie verrückt tremolierend und fetzend, Harth an Posaune und wieder krähenden, röhrenden Reeds spielen stürmische Lover, zeigen sich aber auch, plörrend, rossig schnaubend, bruitistisch und mit allerhand Klimbim, als rasante Geisterfahrer, vertraut mit 'Halbapolitische(n) Strategien alter Provokationsschule'. Harth grillt als Elementargeist Frösche auf Eis - Hahaha. Hein steckt Daemgen mit einer Lyrik ohne Bodenhaftung an, ist selber aber schon wieder kakophon zugange, wäre jetzt nicht ein un- erwarteter Groove angesagt, mit posaunistischen Narrenkappenzipfeln, "weißt Du, ich bin gleicher als Du". Mit nochmal vor den göttlichen Winden die Nase zukneifendem Reedge- quäke und noisigen Schlieren. Windschief, aber von sublimer altmeisterlicher Schönheit, altissimo und guttural in nur einem Atemzug, auf weichen Dunkelwolken, und selbst Freund Hein zeigt sich dem blühenden Leben zugeneigt, das als Marcuses 'Skandal der qualitativen Differenz' aus den Lücken im Unfreien sprießt. Voilà: Negation der Negation (Hegel) + der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (Schiller) + travail attractif (Fourier) + die negierende Kraft der Kunst (Marcuse). Letztere schließt ein, auf sich selber zu schießen, als die gute dialektische Praxis, aus Revolvern Kirschblüten abzufeuern.

Rigobert Dittmann, BA 103

SHANGHAI QUINTET - ShangShan (KSE #379) + NICOLA L. HEIN, ALFRED 23 HARTH - When the Future was Now (KSE #400)


Alfred Harth - 
Kendra Steiner Editions (Seoul / San Antonio, TX)

Stone Age Music. So nennt sich, etwas kokett, was im Oktober 2016 im Power Station of Art in Shanghai entstand und nun als ShangShan (KSE #379, CD-R) präsentiert wird. Headliner des SHANGHAI QUINTETs ist Alfred 23 Harth an Reeds & Samples, umringt von Jun-Y Ciao (reeds), MaiMai (guitar), Xu Cheng (electronics & metal percussion) und Tao Yi (drums). MaiMai hat sich mit Muscle Snog und Acid Mothers Temple & The Pink Ladies Blues eingeschrieben, Xu Cheng ist die oberste Instanz der Free-Music- und NOIShanghai- Szene, insbesondere mit Torturing Nurse. Hier ist er, mehr Nurse als Folterknecht, Teil einer neoprimitivistischen Klangmetaphorik. Noch mit Strom und Metall, aber reduziert auf archaische kleine Gesten, klickende Steine, Flötentönchen, bekrabbelte Saiten, pochende, dongende, flickernde Percussion, Game-call-ähnliche Laute, geblasen oder auch per Gitarre. Nach 13 Min. ist der Stein ins Rollen gekommen, der Homo Ludens lässt die Muskeln spielen, Harth hält mit zunehmend hymnischem Tenorsax die kakophile Ursuppe am dampfen. Jun-Y Ciao spielt den Pharoah zu seiner coltranesken, elektroakustisch bezwitscherten und übertrillerten Selflessness. Der große Sprung (31'40") über 'gelbe' Klischees hinweg landet bei einem herzbewegenden Harth'schen Gesang, eingebettet in kollektiv verspieltem Kind- und Tier-Werden, mit lyrisch zartem Ausklang (Part II - 11'01").

Der KSE-Macher Bill Shute zeigt sich überrascht durch NICOLA L. HEIN, ALFRED 23 HARTHs Spielgefährten bei When the Future was Now (KSE #400). Dabei sind die Qualitäten des Düsseldorfer Gitarren-Philosophen kein Geheimnis, durch Norbert Stein Pata Messengers, Rotozaza, als 7000-Eichen-Pflanzer mit Matthias Muche, als Honigpumper mit Mia Zabelka, überhaupt im Kölner Impakt-Zirkel und nicht zuletzt im Ada Rave Trio. Wobei alles, was ich nenne, Lüge bleibt, weil es so viel verschweigt, was dieser kreative Umtriebler auf drei Kontinenten treibt. Anfang Juli 2017 kam er via Taiwan nach Tokyo, wo es neben Konzerten mit A23H (und Joshua Weitzel) auch zu dieser Studiosession kam und zur praktischen Anwendung seines 'Ästhetischen Denkens' in Form von 'Skeptischer Improvisation'. Harth spielte dabei ausschließlich Klarinetten und das Flair des mit Hein gefundenen Zusammenklangs brachte ihm kammerjazzige Parallelen in den 1960/70ern in Erinnerung, den Xmas-Friedensappell von Lennon/Ono ('War is over! If you want it!'), Nam June Paiks Parole 'The Future is Now!'. Allerdings ist der erste Eindruck eher bestürzend, als klarinettistisch brilliante und ruppige Attacke, als würde Hein die Saiten mit Fausthieben und Propeller traktieren. 'Life is a Tape' zügelt das, brütend angedunkelt, mit lyrisch folkloresk unterdrücktem Aufschrei und trillernd aufschrillendem Andrang über rumorendem Grund. '1+9+6+7' bringt dann die ersten balladesken Reminiszenzen, cum grano salis. Bei 'A Society of Screens' schlagen sie wieder rauere Töne an, raspelzungig und grummelnd, klagend, keckernd, dröhnend, wühlend, schillernd. Gefolgt von einem zweiten Quasi-Evergreen, zeitvergessen, ortsentbunden, sogar Hein macht dafür die Finger ganz spitz. Und ganz zart berührt er auch die Saiten für Harths eindringlichen Ruf nach Frieden und Zärtlichkeit, der freilich in kakophone Bedrängnis gerät. Doch 'Wassermannfernsehen kaputtgespielt, - gelacht' hebt erneut wunderbar sanglich an, Hein harft und flickert, Harth nöckt melodienselig und treibt es immer toller. So viel Sinn fanden die beiden, mit geteilter Skepsis im geteilten 'Sinnraum', dass mit Revolver 23 schon die Fortsetzung verabredet ist, mit Harths Imperial-Hoot-Companion Marcel Daemgen und dem bei "Confucius Tarif Reduit" bewährten Jörg Fischer.

Rigo Dittmann, BA 99

LP Kepler-452b / Psych.KG


Himmel hilf! Unendliche Weiten sind nichts gegen die polymorph-perverse Abgründigkeit der Kepler-452b-Expedition. Sollte die tat- sächlich ihren Ausgangspunkt in "Kepler 452b Edition" (Kendra Steiner, 2016 -> BA 91) haben, ALFRED 23 HARTHs xenophoner Allegorie von Leben in einer fremden Welt? Bei Kommissar Hjuler und Frau aka KOMMIS- SAR DIONYSOS UND ARIADNE aka Kommis- sar Teotihuacán und die Gefiederte Schlan- genfrau aka Kommissar Cagliostro und Fan- ferlüsch wuchs sich das aus zum Weltraumabenteuer der Edition Kepler-452b, mit über 30 Folgen (Alben) in den Sektionen A-1 bis A- 10 (Reisevorbereitungen, Entwicklung des Breast-Bondage-Propulsion-Antriebs, Aus- wahl und Training der Crew, Test des An- triebs und Aufbruch), B-1 bis B-Fähre (der Flug), C-1 bis C-5 (Ankunft / Leben auf dem Planeten, der im Sternbild Schwan um einen Gelben Zwerg kreist) und D-1 bis D-L3/2Ü (Tod auf Kepler-452b und weitere Katastrophen im Himmel und auf der Erde). Spielten anfangs österreichische und US-amerikanische Poeten wie etwa Steve Dalachinsky Haupt- rollen, so später auch der deutsche Jürgen Schneider (der auch u. a. Sean McGuffin und Hakim Bey übersetzt hat). Einer der prominentesten Weltraum-Cowboys ist JONATHAN MEESE aka Johnny Meese, mit dessen 'Dear Alien Friend, Ufo Boy, Ufo Girl, Are You Religious ? No, Our Leader Is Art !' sich in der Phase B die Episoden "Das Kepler-452b- Pre-Sequel", "TEIP", "Die ausgebrannten Antriebsaggregate" und "Die Katze" mit Maja S. K. Ratkje auffächern. Zuvor jedoch zoome ich heran an die Episode Aufbruch zu Kepler- 452b (Psych.KG 451 / Section A-8, LP), in der schwarzen Volksausgabe (Auflage: 100) neben den akustisch datengleichen "Datentransfer / The BBP", "Es gibt im Universum viele Dinge, die man besser nicht", "The Geoffrey Krozier Kepler Transformer", "Krystal Boyd" und "Ambulance", Unikaten in koloriertem Vinyl, mit Kinderschockolade, Dia Slides oder Assemblage-Kunst-Cover. Kunst ist doch die wahre Heimat, wie Julian Schnabel in der BILD verriet. Auf dem Cover, als nackte Tatsache verkörpert vom Kommissar und der Mama, füttert Ariadne Dionysos mit Trauben.
Nein, umgekehrt: Er ist Ariadne, hingestreckt, schaudernd, dem Hunde gleich sich wälzend. Sie blickt, der Menschen-Qual nicht müde, mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen, ihm/ihr ganz Schmerz, ganz Glück, ganz Labyrinth. Das Labyrinth, den einen Kunst, den andern Kirche, den einen Wahrheit und Tod, den andern Wahrheit und Leben, wird '...hier ab- gebaut und auf Kepler-452b neu errichtet' (so D & A bei 'Die Kirche wird hier abgebaut...'). Meese diktiert 'K.U.N.S.T. - Tanz' doch mal kein ich (Om Mi Nit On)', mit dem Selbstver- ständnis 'Johnny Meese ist der deutscheste Cowboy (Das ist die Zukunft)'. Und A23H macht 'Zisch!' (und hat dazu Clint Eastwood und Charles Bronson als Spaghetti-Cowboys auf der Werbung für einen koreanischen Club als zweites Covermotiv geschossen). 
Aus der Stille schält sich Ariadnes Klage, heulend, singend, kirrend zu Urlauten einer Art-Brut-Gitarre. Sie fährt tobend fast aus der Haut und droht ihrem Widersacher alles mögliche abzuschneiden. Bei 'Zisch!' wird ihr dafür die Axt geschliffen. Dann stößt A23H zu einem Gitarrendrone wieder und wieder Ich schäme mich (für Trump?) (Pisse?) (Scheiße?) aus und steigert sich dazwischen, jetzt auch noisig umflattert, in einen Saxexzess hinein. Wo bleibt da die Science Fiction? Scheiß auf Ster- nenkrieg und Sternendreck, eIN Planet der Affen genügt. Meese spickt einen Technogroove mit V- Effekten, Spieluhr, Noise und macht dazu Einwürfe wie Ich mache für dich die Grimasse der Kunst... die Alraune der Kunst... Om Mi Nit On... Du kannst doch einfach mal kein Ich tanzen... Entidentifiziert euch... Dass die Leute ichversaut sind, ist ein Problem, das es im 'Kein-ICH' evolutionär aufzu- lösen gilt. Zu Gitarre feiert er in einer seiner wahn- witzigen Cowboy-Performances John Wayne als größten und radikalsten Cowboy Amerikas. Um sich selber darüberzusteigern in wagnerianischem Großformat als radikalster, deutschester und totalster Cowboy der Zukunft, als größter Diktator der Kunst der Zukunft. HÄRTE HUMOR HERZBLUT GOLD- ZUNGE JOHNNY MEESE mit Van-Gogh-Hut, als zugleich Billy the Kid, Zardoz, Nero, Humpty Dumpty, Fuzzy der letzte Verfechter einer Kunst der Überforderung, der Gewalt, der Gewalt der Kunst. Keine Kirche auf Mondparsifal Alpha 1-8 & Beta 9-23! Nein, er will vielmehr als kindischer Parsifal, als Dämonenjäger John Sinclair, die Kunst / das Leben von den finsteren Mächten der Ideologie befreien. Wo Ich war, soll Kunst werden, wo Religion war, sollen Freiheit und Humor herrschen. Alles, was ohne Ideologie ist, ist Kunst. Kunst ist ein ultimativstes Spiel. Und da Kunst immer über das Ziel hinausschießende Zukunft ist, ist sie genuinste Science Fiction. Als Wissenschaft von der künftigen 'Diktatur der Ideologielosigkeit'. Kunst ist keine andere Religion und keine Gegen-Politik, sie steht über Religion, über Politik. All das manifestiert er mit 'Wir brauchen die Neue Deutsche Ordnung (Die Mutterz-Meese-Ordnung)' oder 'KUNST entheiligt alle(s) (Aberglaubt Mi Nit On) (M.E.E.S.E. ist nicht böse)' im weiteren Verlauf der Edition Kepler-452b. Nennt es Kepler-452b-Expedition, nennt es Erzbaby Parsifals Mondfahrt. Die drei !!! hier inter- agieren als Schiffbrüchige der Zeit. Ob A23H wusste, was ihm da zwischen S/M und Meeses S.T.U.N.K als ballernde Weltraumpferdeoperndiva blüht, ist eine andere Frage. Das Ecce homo, das noch im dionysisch-ariadnischen Schrei und im Fremdschämen von 'Zisch!' anzuklingen scheint, aber bereits an der visuellen Oberfläche unpathetisch schillert, wird bei Meese durchlöchert. Meese sagt [im Interview mit der Kulturzeitung 80] „Ja“ zu Picasso, van Gogh, Balthus, Zardoz, Caligula, Lolita, die Mumins, Mutter Meese, Graham Ovenden [der 2013 wegen des Missbrauchs minder- jähriger Modelle verurteilt wurde], zu Dali, The Wicker Man, 2001 Odyssee im Weltraum, Clockwork Orange, Barbarel- la, Die drei ???, Jack London, zu Radika- lität, Liebe, Nietzsche, Richard Wagner, Parsifal usw, usw. Lass ihn rauchen, deinen Colt, Johnny. Ein dekadenter Cop, ein Gunslinger, und habe ich nicht auch schon A23H mit Knarre gesehen? Also, hütet euch, ihr Gesetzlosen.

Rigo Dittmann, BA 99


ALFRED 23 HARTH - JOHN BELL Campanula (Moloko+, Plus 95, w/ 48 p booklet)


Wie schon "Camellia" (Kendra Steiner Editions, 2015) ist hier vieles durch die Blume, die Glockenblume, und durch Poesie in Schwingung versetzt. Durch die poetische Synästhesie von Basho: Die Glocke hat den Tag hinausgeläutet. Der Duft der Blüten läutet nach. In Korea läuten sie wie Gongs. 'Revelations in Slow Motion' schwingt durch die Poesie von Bill Shute mit Buddha Bowls full of speech & circumstances. Durch die klingende Poesie von Klarinetten, Tenorsax, Melodika, E-Gitarre, Synthi, Dojirak (eine Lunchbüchse, mit Bogen gestrichen). Durch den poetischen Klang von Bells Name, seiner Vibraphone, Schrottgegenstände, Saiten, Küchentöpfen. In Harths Laubhütte wurden Jahre und Meilen aufgemischt mit dem Spirit des I Ging, die Interzone-Mashup-Technik von William S. Burroughs evoziert das gemeinsame Bordercrossing: Cross the border, close the gap / 'Choose your battles, wear the mask'. Die Lenden gegürtet mit Asteroiden, sitting alongside worried men and wooden soldiers, verbunden in der geteilten Vorliebe für Knarren und Karren, umschwirrt von B-movie sour-bites & impostor-complex scenarios. In Gwangju mit der Erinnerung an das Massaker 1980, in Tongyeong in memoriam Yung I-sang, überall mit Meister Beobjeongs "mu soyu" im Ohr: Entrümple dein Leben. Finde das Wahre im Vergänglichen, in Gebrochenem & Scherben. Reflect upon human history through the flower's bloom. Lerne neue Wörter: Senfblattkimchi, Asbestdach-Hanok, Frühjahrsmilitärmanöver, Art-illery, Cloud-Impro. Mit Klarinettenreveries, Stabspielklingklang, aber rumorend verschliert, verzerrt, zerkratzt in einem mehrstimmigen Morphen und Quallen, einem vielspurigen Pulsen, Knarzen und Schlurchen. Mit beiläufigem Rezitativ von Shute, der wie ein blinder Seher die Dinge durchschaut und beschreibt, ohne sich von der kakophonen Turbulenz verrückt machen zu lassen. A23H konterkariert die geblasenen Lyrismen - ach, allein sein 'Trying not to...'-Solo - mit jaulenden und keckernden Lauten, die er dem Dojirak entlockt. Auch Bell kann schön carillonieren wie mit tönernen und gläsernen Glöckchen, angeblasen von bassklarinettistischem Zephyr. Ein Gong dongt, Harth raunt über grollendem Abgrund, bezischt und von einem Ufo umsaust. Bell pingt und paukt, umgirrt und bedröhnt mit koreanisiertem oder didgeridoo-dunklem Ton. Thesouthwind brings dust, der Westwind... Das Tenorsax flammt auf, die Zungen vermehren sich, Harth fischer-dieskaut und urmelt auf dem Eis zu windspielerischem Gamelan. Der Duft der Blüten läutet nach.  

[BA 97 rbd]

ALFRED 23 HARTH's Berlin Ensembles (KSE #363)



'Scheunenviertel Aufsturz', 'Tacheles Smombie' & 'Mummerehlen Gespenstermauer' wurde benamst, was ALFRED 23 HARTH's Berlin Ensembles (KSE #363, CD-R) am 12.11. 2015 im Aufsturz-Club fabrizierten. Harth, im Steinhagel überbauter Erinnerungen an ein anderes Berlin, mit einem Fächer an Blasinstrumenten + Synthie, Kazuhisa Uchihashi (sein Partner in Hope und The Expats) an Gitarre & Daxophon, Clayton Thomas am Kontrabass & Fabrizio Spera (sein Partner in 7k Oaks) an den Drums. Die halbe Mummer-Stunde wurde zusätzlich von Elliott Sharp gitarristisch mitgestaltet. Schon ohne ihn ist das eine furiose Freejazz-Supergroup, derer Raison d'être die radikale Vertikale ist. Der umgekehrte Höllensturz, der alles luziferische Irrlichtern zurück zur Quelle reißt. Aufsturz! Lichtzwang! Kakophonie als Feuertaufe. Aber auch schon ein Vorgeschmack von Seligkeit. In seiner rücksichtslosen Freizügigkeit noch zwingender als zuvor Hope in Frankfurt. Uchihashi entfesselt wie in Altered States-Zeiten, aber auch daxophon, dass sich die Wände biegen. Keiner ist sich zu schade für einen Groove. Harth setzt ungeniert wie lange nicht den Hahn aufs Dach, bekräht den koreanischen Mond, maultrommelt im Dämmerlicht. Er spielt Bassklarinette (einfach sensationell!), Uchihashi eine Wildsau, Spera den rabiaten Anheizer und lockeren Schaumschläger, Thomas raspelt die Saiten, der Himmel steht offen. Harth eislert elegisch, hymnisch (mir kommt 'Über den Selbstmord' in den Sinn), die Gitarre splittert und hext takayanagisch, Gespenster scheuchend, mauerbrechend, der Sound eben noch kollektiv verdichtet, jetzt schon wieder licht und morgenrot. Wo setzt Sharps Mehrwert ein, was ist die Steigerung von super? Gitarrensound und Harths Tenor fusionieren bis zur Weißglut, Spera und Thomas kontern schnarrend und klapprig, Sharp wirft jaulende Blasen, heult Glissandos, gefolgt von einer fast folkloresken Passage, die Harth gießkannig bespotzt. Ein Mühlrad dreht sich ein zu einem Sambashuffle, zu koreanischem Voodoo, um sanft gefedert und wiegenliedzart zu enden. 

Rigobert Dittmann, BA 95

Alfred 23 Harth: MOONDADA (Moloko Print 23, 218p)


Keine Musik diesmal, sondern moon-sun-surreale Einflüsterungen des Laubhuettenvogels in Seoul, autobiographische Glückskekstexte aus fünf Jahrzehnten, die einen huckebein nehmen. Poesie mit Lichtzwang, Sprachkunst als Reißzweck, kranichklar, karpfengrau, rabenschwer, elsterklug. Wortwitz und Textlust, koreanisiert mit Sprachfibeln, User Guides, Benutzeroberflächen, Hintergrundsgerüchen. Borges und Celan grimoirisiert, by heart und per Software, Verschreibkunst im Delearyum, springend von Aleister und Alice zu Ufos über Oulipo, von 1966 zu "Red Art" (1984) zu "Plan Eden" (1986) zu neologistischen G23-Gipfeln jenseits von Kalkül. Als verrückter, absurder, heilig-profaner Katzengoldmacher und Ginkgobeuysianer häuft Harth auf schmalem Weg ins azephalische HuxleyOrwell-Futur verarnoschmidtste AH-und Moiré-Effekte, mit Yi Sang und Bataille im Gefieder. Der pfingstliche Ant-Zen-Kentaur zündet für den listigen Hubert Bergmann 'Nasrudin's Meisterlampe' an, gedenkdankt Friedrich Kittler (1943- 2011), fragt "Wieviel Du verträgt dein Herz" und wechselt zwischen Scherben- und Pilzgerichten täglich das Gesicht für die Quest der Evolution. Ab Seite 82 fängt prosaisches Neuland an, Briefe, Blogeinträge "Peripathy", Träume, Tourtagebuchnotate (mit dem Shanghai Quintet in China, mit Gift Fig am Kap), fernöstliche Tripreportagen, mit Geschichtsbewusstsein und feinem Ohr für den Clash of Civilizations: "Buddha sitzt, Jesus hängt", koreanische Elster vs. japanische Krähe. Allerdings erweist sich koreanische Schwarze Pädagogik unerwartet als aufoktroyierte japanische und diese als Imitat preußischer 'Tugenden'. Oder südafrikanische Armut als langes Nachbrennen 'kaukasischer Gräueltaten'. Mit Grenzen als Dauerthema, so nah an der Grenze, dem Eisernen Dreieck, zwischen Nord- und Südkorea als vermintestem Streifen der Erde. Harth w.s.burroughst und ploogt in einem Sprachfluss ohne Ufer, Simple Deutsch kann him furchtbar leckn. Er betreibt die Kunst, einer toten Hose all die Kunst zu erklären, die er zwischen dem Ha und dem Ha in sich trägt. Er zieht fiktive Mixed-Media-Künstler aus dem Hut, erfindet Ceeno Keerkenbow als Mynheer Peeperkorn der Neuen Musik, Albern Hellmuth Boring für eine Parodie des NZfM-Jargons, betreibt selber auch Frisörkritik. Seinen Japantourreport beendet er mit "Ja, Pan, ich tanze." Für eine Kyoto-Lecture brainstormt er über Jedi-Meister-Yoda-Grammatik, Peinlichkeit, Massenmörder (wie Bush) und Bauernopfer (nicht nur beim Schach). Merke: "Mull-ah Nidur-san immerfremd muss bleiben!" (Mulla Nasrudin ritt bekanntlich rückwärts auf dem Esel). Harth taucht den Pinsel in "Mynonas Wohlwohnfarbkasten", dennoch entsteht nicht erst, wenn er die desasterkapitalistische Zukunft wahrsagt, ein Vanitas-Bild (mit Nipper). Er korrespondiert mit Wolfgang Müller über die Walther von Goethe Foundation Seoul, phantastert 23 Tage lang mit an 'Die Dschungel. Anderswelt', dem Blog von Alban Nikolai Herbst ("Wolpertinger oder Das Blau") und würzt dessen 'Kybernetischen Realismus' mit dem 'Réalisme spéculatif' von Quentin Meillassoux. Er schreckt nicht zurück vor "Dieb Burble, verzettel dich nich", "Der Schlingel siefte" oder "Häscher im Weizen". Daneben Herbststimmung mit Haifischknorpel & Algensuppe. Und Tigertristesse (der letzte koreanische wurde 1923 von einem Japaner in Knickerbocker erschossen). Um zuletzt "Moondada" zu rufen, koreanisch für "Tür zu." Nicht ohne einem Hugo Balls "Gadji beri bimba..." (übersetzt: Elster Beerenfutter) als koreanischen Floh ins Dada-Ohr zu setzen, via Briefen von Franz Eckert (1852-1916), dem Kapellmeister am koreanischen, ab 1910 japanischen Hof in Seoul, die von dort nach Berlin gelangt waren. Dass der heutige 'Hof' der Präsidentin Park die Romanows und Rasputin bescheiden aussehen lässt, ist Dadaismus der bösen Sorte. Das A23H-Lesebuch, ein "Bewusstseinsexpander" aus poetisch verspielten, persönlichen, immer geistesgegenwärtigen Fragmenten, ist, illustriert mit Zeichnungen, Radierungen und Frottagen von ihm, Avant-Mixadelic, bei der man schnell nicht mehr weiß, wo einem, so "lachend seekrank", der Kopf steht. Was bleibt aber stiften lausbübisch stammelnde Dichter.

Rigobert Dittmann in Bad Alchemy 93

HARTH / SEIDEL / SPERA / VAN DEN PLAS Malcha (Moloko+, Plus087)

Kernstück dieser wie koreanischer grüner Tee aufgeschäumten Musik ist eine Session von Alfred Harth, Wolfgang Seidel & Fabrizio Spera am 13.11.2015 in Wedding. Die freilich nicht denkbar wäre ohne das Hintergrundrauschen von Seidels 'Total Freier Musik' mit Conrad Schnitzler und Harths 'herrschaftsfreier Musik' mit Just Music, das bereits Anfang der 80er schon mal zusammen­gerauscht ist, als Harth mit Seidels Populäre Mechanik improvisierte. Vermittelt wurde das durch eine Beuys-Connection von Schnitzler und Harth, der 25 Jahre später sein Projekt mit Spera wiederum mit Beuys-Spirit 7k Oaks taufte. Virtuell waren Harth & Seidel sich bereits für "Five Eyes" (Moloko+, 2014) wieder nahegekommen, diesmal also von Angesicht zu Angesicht. Allerdings mit massiver Nachbereitung des Sessionmaterials im Harths Seouler Laubhuette. Insbesondere infiltrierte es den Sound seiner Saxophone, von Seidels Buchla, Vibes und präparierter Gitarre und die von Speras Drumming verdichtete Percussion mit Zuspielungen von Nicole van den Plas, seiner Partnerin einst in E.M.T. Deren schamanistischer Singsang, ihre Pfeifen, Piano und Daumenklavier, dazu Gekrabbel auf Zither und Balalaika bohren zusammen mit Harths Dojirak ins kirrende und brodelnde Delirium ein Wurmloch bis ins indische Oudh. Durch das quoll die phantastische Geschichte der Begum Wilayat Mahal, die sich mit zerstoßenen Diamanten im Malcha Mahal das Leben nahm, und inspirierte zu den Titeln. Ähnlich weird, wenn nicht noch bizarrer und überwirklicher ist der akustische Gegenentwurf zu Sinn und Form, Maß und Ziel, Ersatzausdrücke: anarchisch, polymorph-pervers, unsystematisch offen, honigplastisch. Harths Laubhuettenästhetik bis hin zu "Kepler 452b Edition" (auf Kendra Steiner) ist eine Explikation dieser unbedingten Freiheit. Sein Tenorclash mit Seidels Buchla ist ein Triumph, aber wie van den Plas den Hexenbesen schwingt und was die sieben Spatzen unter ihrem Dutt da treiben, das setzt noch einige Zacken obendrauf.

[BA 92 rbd]

Kendra Steiner Editions (San Antonio, TX)




Wenn die Furie heuer gleich (und gleichzeitig) zwei Gründungsmitglieder von Jefferson Airplane wegraffte, bekommt das Codewort Tunnels (#333, CD-R) für das Gitarrensolo, das ERNESTO DIAZ-INFANTE 2014 Next Door to the Jefferson Airplane Studios San Francisco klampfte, eine vielsagende Schwingung. Der Furie hat freilich auch der hartnäckigste Maulwurf noch nicht entkommen können. Ich bin umso mehr versucht, die monotonen Schläge, mit denen unser Mann aus Salinas unermüdlich wie ein Uhrwerk die Saiten wie ein Akkordeon dröhnen lässt, eine Protestmusik zu nennen. Die der Zeit ihre eigenen Zähne zeigt, die den Sekunden sagt: Wir sind von gleicher Art, geht weiter. Es ist das, nach "Emilio" (2011) für Bajo Sexto, Electronic Tanpura & Singing Bowls und "Sol et Terra" (2015) im Duett mit Lisa Cameron, eine ausnehmend minimalistisch-repetitive Demonstration und Feier der, mit einem dröhnend summenden Bordun, der leicht indisch anmutet. Hatte "Sol et Terra" unter dem Zeichen der Tarot-Königin der Münzen und dem von Jefferson Airplane mit Sternen und den Rhinozerossen von Poonell Corners jongliert, geht es hier mit geschlossenen Augen um den bewegten Stillstand in einer klingenden Sphäre, um einen Schwebezustand, den eine beharrliche und ausdauernde Hand aufrecht erhält. 

BRIAN RURYK einen Gitarristen zu nennen, hieße den Spaß fast zu weit treiben. Aufgewachsen in Toronto unter dem Fluglärm des Pearson Airports und angefixt von "No New York", sieht er sich selber allenfalls als Gitarrenidioten, als primitiven Gitarrensimpel. Den Kram, den er seit über 35 Jahren macht, nennt er nicht "Guitar Ape" oder "Piece of Shit Guitar", um nach Komplimenten zu fischen. Wo sonst "Bitte nicht füttern" steht, steht bei Ruryk "Please Don't Encourage Me". Was er spielt ist Schrott. "Broken String, Less Work", so einfach ist das. Actual Size...degress again (#334, CD-R) bringt chadbournesches Freakout, Feedbackkrach und andern Krach. Das Tonband ist wie mit Machete zerstückelt, beschleunigt, verlangsamt oder an die Ziege verfüttert, die an der Müllkippe ihr Dasein fristet. Die Saiten gefetzt, gerupft, zerkratzt, bekrabbelt, geschruppt. Nichts bleibt am Stück, alles ist zerschnitten in winzige Kürzel, gestaucht, geloopt, vielspurig geschichtet, überschüttet mit schrottigem Krawall und perkussiver Randale, oder ein bisschen Piano, Radio, weiß der Teufel. 'Sweet Death' fällt aus dem Rahmen, wegen seiner 8:03 (neben zerkrümpelten 1-2 Min.), aber auch durch einen Auftakt wie mit Chorvokalisation. Der auf der Fletcher-Munson-Kurve skateboardende Irrwitz nimmt überdurchschnittlichen Realismus für sich in Anspruch, taugt aber auch als Verstörung und als Ausstiegsoption für die Unhappy Few. 2009 zählte Ruryk "Torture Time!" (Parachute, 1981) von Polly Bradfield & Eugene Chadbourne und "alles von Xenakis" zu den Schätzen seiner Plattensammlung. The MusicGallery, Toronto's Centre for Creative Music, präsentierte ihn 2015 als "local icon of abstract guitar" neben dem Trompeter Peter Evans, als 'Weird Doods' von vergleichbarer Weirdness. So kann's gehn. 

Darum, liebe Brüder, ein jeglicher Mensch sei schnell, zu hören, langsam aber, zu reden, und langsam zum Zorn. (Jak 1:19) Mit diesem guten Spruch lädt REVEREND RAYMOND BRANCH nicht nur die Kranken und Weggeschlossenen, seiner "Rainbow Gospel Hour" zu lauschen. 43 Jahre lang war der Frisör und Pastor der Heavenly Rainbow Baptist Church in South Los Angeles jede Sonntagnacht von 3 - 4 bei KTYM, Inglewood auf Sendung. On the Air! (#335, CD-R) bringt eine typische Stunde mit Aufrufen und Gospels zu Gitarre, Omnichord oder QChord, teils mit seinem Soulbrother Roland Payne. Es erklingen 'I’m Troubled', 'The Lord Will Make a Way Somehow', 'Step by Step', 'Milky White Way', 'I Want to Be Loved' und zuletzt die 'Ten Commandments of Maturity'. Dazwischen beschwört der Reverend den Glauben an den Glauben (Hebr 11) und zum Gottvertrauen (Psalm 27): Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollt ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? Nun, im Dunkeln und im Wald ist schon viel und viel umsonst gepfiffen worden. Weiter zu Psalm 23? Nicht doch. 

Montiert im LaubhuetteStudio Moonsun von ALFRED 23 HARTH aus 29 Facetten von teils weniger als 30, aber auch von über 240 Sekunden und sogar einer Passage von 6:40 erklingt auf Kepler 452b Edition (#336, CD-R) die 'Kepler Suite' als 'An allegory of life in an alien area'. Dass Mixmaster A23H damit nur seine koreanische zweite Heimat meint, wäre wohl zu kurz gegriffen. Die Soundstürme aus brausend beschleunigten und sausend überdrehten Spuren, aus flattrigen oder verzerrten Sounds, aus gestauchter Kotze aus Glotze oder Radio sowie aus dem Mashup geblasener, gepresster, getrappelter Töne und sogar aus durch diverse Vocoder gejagten Artikulationen bilden zusammen eine Xenophonie, die sich letzlich doch als der Noise und der Groove dieser Welt entschlüsselt. Mit Beschleunigung und Häufung unter fernöstlichen Vorzeichen aufgeschäumt als Overkill für die Sinne, stehen die Wonnen der Überforderung zur Debatte. Mittendrin auch kurz mit über-charlie-parkereskem Altosax, schnell aber wieder delirant zermulmt, verschliert, verhackstückt. Meist als sehr kleinteilige Bruitistik und erratisches Geschwirr, partiell aber auch mit noch erkenntlichen Gesangsfetzen oder Mundstückschmauchspuren. Dazu kommen rhythmisches Gepixel und Geklapper, brüchige Buddhamaschinenloops, Spieluhrklimbim, Loony-Tuning oder quäkige Katzenquälkakophonie. Letzlich aber immer wieder als die Herausforderung, sich diese Zumutung mit keplerschem Wagemut zuzutrauen, wobei allerhand groteske und saukomische Momente das 'Fremdeln' überspielen. 

Wenn zwei Gitarristen sich Broken Hands nennen, verrät das einiges. ANTHONY GUERRA ist einer davon. Er ist dazu auch einer der Vodka Sparrows und mit Antony Milton (von The Stumps) nannte er sich Paper Wings. Mit Black Petal betreibt er, dem zwischen Sydney, Tokyo, London oder Kawasaki nur schwer zu folgen ist, der in Antipan trommelt und bei Mysteries Of Love singt, ein eigenes Label. Dort ist 2011 erstmals Subtraction (#350, CD-R) erschienen, ein Guitar & Poetry-Meeting mit BILL SHUTE. Der Kendra Steiner Editor liest 'Marion, Texas', 'Deep Focus', 'Fourty-Four Harmonies', 'Kerrville, Texas', 'Marking Time' und 'Subtraction'. Shute bereist weiter seinen Heimatstaat, mit einem Auge wie Wim Wenders, mit einem Auge auch für den Mond.Nie übersieht er dabei die Habenichtse und streunenden Hunde. Die Gitarre plinkt dazu feindrahtig oder auch fernöstlich, zart und fast wie eine Harfe, wenn auch mal leicht verstimmt. Dass Shute dazu von Arbeits- und Obdachlosigkeit redet, von "idle holders of idle capital" und von Immigranten, verwundert, da man bei seinem träumerischen Vortrag solch kritische Nähe zum US-Alltag nicht vermutet. Aber auch: Gingerbread Men without appointments / sit on mahogany benches / waiting for time to start / or to stop. Shute sieht, denkt und fühlt mit verblüffend reicher Sprache, ohne lyrisch zu beschönigen oder ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Decisions made for us by puffy reptilian administrators trifft, was es zu treffen versucht. Umso gruseliger, dass Millionen seiner Landsleute dennoch ihr Heil von einem wild gewordenen Clown erwarten. An Shutes Gegenpol: No clocks, no cars... no need for locks on doors. Religionen und Parteien sind schon mit weniger und dümmerem Programm groß geworden. 

MASSIMO MAGEE ist in London auch schon mal in Rick Jensens Apocalypse Jazz Unit zu hören oder als Power Couple mit der Drummerin MiHee Kim. Music In 3 Spaces (#351, CD-R) bestreitet der Australier, der den Hörer mit den 26 CDs seiner "Collected Solos" gern mal überfordert, aber in seinem bevorzugten Format, solo, dafür dreidimensional. So bittet er um Aufmerksamkeit mit 'Concert' an Eb Clarinet, 'Living' an elektroakustischem Altosax, und 'Cyber' mit audiovisuell und digital ausgelesenem Sopraninosax. Magee macht nämlich auch Digital & Glitch Art, und er publizierte den antiutopischen Texttriptychon "Counter Culture - A Novel - In Three Parts". Eine Obsession für improvisatorische und klangliche Psychodramatik und die Wertschätzung für "On the Road", "Blood Meridian", "Infinite Jest" und "2666" zeichnen eine düstere Zukunft. Seine Konzerte sind dagegen Hirn-OPs ohne Betäubung, mit kakophonen Schnitten, zirkularen Wellen, Luftstößen und Klagelauten, je elektroakustischer und digitaler, desto stechender, perkussiver, schleifender, schleierhafter. 
                                                                                                                             
rbd in BA 91

Kendra Steiner Editions (San Antonio, TX)


Die sich da für Casual Luddites (#320, CD-R) zusammengetan haben, sind beides Wiederholungstäter auf KSE: der Gitarrist & Banjospieler TOM CREAN hat zuletzt "Wired Love" (#260) gezupft, MIKE BARRETT, einschlägig unter dem Namen Belltone Suicide, steuerte nach den "Non-Conformist Sessions" (#314) gerade erst "Wave Table Erotica" (#327) bei. Er ist ein großer Brodler, Prassler und Sprüher, während sein Partner pinke Dröhnwölkchen ans Firmament setzt, die er aus ganz gitarristischen Statements hervorgehen lässt. Im Wechsel dazu klampft er fröhlich Banjo, was im Zusammenklang mit einem R2-D2 mit Nervenzusammenbruch ziemlich schräg klingt. Überhaupt wird Kontrast groß geschrieben, wenn da der eine geschraubt röhrt, während der andre stur auf psychedelischem Parallelkurs bleibt. Andrerseits ist das Miteinander explizit Thema, neben Saigon, Hanoi und Cambodia, hindert aber nicht an getrennten Wegen oder Alleingängen. Barretts Spielzeugt zuckt und quiekt, knarzt und fiept, pumpt und gluckst, flattert und zwitschert wie unter den Fingern eines Flippercracks. Crean gibt sich sanft und cool oder, wieder mit dem Banjo, fernöstlich verzupft. Zu solcher Anarchie Art brut zu sagen, wäre freilich fartsy. 2015 war ein fleißiges Jahr für Marcus M. Rubio, der in Austin, TX, als MORE EAZE tolle Musiken macht. Mit "fine." für Drums & Pedal Steel Guitar und "(frail)" (mit Samples von Jim O'Rourke und Johannes Brahms!), jeweils als Kassette auf Full Spectrum Records bzw. Already Dead. Und mit einer ganzen Trilogie auf KSE, bestehend aus "Stylistic Deautomatization" (#293) und "Accidental Prizes" (#310), wobei ich jetzt erst Abandoning Finitude (#326, CD-R) mitbekomme. Aber damit endlich doch diesen außergewöhnlichen Komponisten, dessen Imagination ein Lotterbett für seltsame Bettgenossen ist und den KSE nicht umsonst als "the Van Dyke Parks of the noise- experimental music world" feiert. Man muss sich nur mal auf Bandcamp "(frail)" anhören: Musique concrète morpht von knistrig-granular zu ambient zu stürmisch brausend und liest unterweg eine American Primitive Guitar auf und Talkboxgesang eines Crooners wie Zapps Roger Troutman. Zu rubbeligem Vinyl gesellen sich elegische Strings und wieder souliger Schmus, zu Minimaltechnobeats und launigen Streichern beginnt ein intimer Popsong mit Hanna Campbells wunderbarer Altstimme usw. usw. Kurz, More Eaze erschafft "a music of infinite possibility". #326 hebt mit Loops einer besinnlichen Gitarre an, die sich kaskadierend und flirrend auflöst in einen Wirbel von Klangpartikeln. Plötzlich: Phantomchöre zu laschem Einhand- ticken. Und: Schnitt zu Ritualtamtam mit Handclapping und Telstar-Theremin. Über klopfendem Techno- und Tickelbeat wölken sich vage Vocoderstimmen, und: ein verklumpendes Streichquartett, und: der Lerchengesang einer Violine, gegen den die Katze die Krallen ausfährt (in Gestalt kratzender Geigen).Jetzt: eine Gitarre für einen Songwritersong wie von David Grubbs, gefolgt von huschenden Irritationen im Stereoraum, die in exzessivem Gitarrenfuror eskalieren. Quakende Noisepartikel wuseln erratisch umeinander, Synthisound brodelt, doch schon kehrt die faheyeske Gitarre wieder, gegen die jedoch Streicher anschrummeln, bis aus ostinatem Stakkato ein albern-simpler Orgelgroove entsteht, von Noisefraß gesprenkelt. Zu klackenden Sekunden schweifen Synthiklangwolken und himmlische Chöre. Den Schlusspunkt setzen Streicher und ein leicht verunklarter, dennoch süßer Song in Jim O'Rourke-Manier, über den sich aber saurer Regen wie aus Kübeln ergießt. Nicht ohne ein unverdrossenes allerletztes Gegenmotiv der Gitarre. More Eaze! More Eaze please! Liquid Sunshine (#328, CD-R) bringt vierhändige Percussion von LISA CAMERON & NATHAN BOWLES, beide mit einschlägigem Werkzeug inklusive Cymbals, dazu Kontaktmikrophonen seitens Cameron und Gongs und Bells bei Bowles. Es hebt an mit furiosem Schlaghagel über die Bleche, einem hochfrequent flackernden, flickernden, sirrenden Klangteppich, der die Ohren mitklingeln läst. Erst als das Thrashing transparenter wird, kommen auch holzige Schläge und dunkleres Rolling zur Geltung, bis zuletzt jeder einzelne Schlag zählt und die Gestik sich auf Schaben und Klacken fokusiert. Die beiden entfalten da emsig den üppigen Reichtum metalloider Nuancen, die Rhythmik ist dagegen am besten wohl mit 'wild' zu beschreiben. 'Rusty' ist ebenso ein zutreffendes Stichwort wie 'liquid'. Neben dem rappeligen Eifer vermittelt sich der große Spaß an klanglichen Finessen, die schrottige Möglichkeiten mit einschließen. '40 Days of Shrouded Demons' und 'Liquid Sunshine Redux' sind Livemitschnitte aus The Cellar in Blacksburg, VA. Die massive Dröhn- und Schlagkraft der beiden weist dem unverschämt geschwätzigen Publikum nur eine Nebenrolle zu. Cameron aka Dave Cameron oder Venison Whirled, genießt als das Unikum, das sie ist, ja schon einen gewissen Ruf, ihre Aktivitäten in Austins Undergroud, ob mit ST 37, The Rudy Schwartz Project oder Jandek, sind legendär. Ihr Partner in diesem manchmal Undercurriage genannten Duo hat mit der Steve Gunn Band, Pelt, den Black Twig Pickers oder der  Spiral Joy Band gespielt und könnte einem Cymbal selbst mit hinter dem Rücken gefesselten Armen Töne entlocken. Hier hört man die beiden unchained. Voilá! 

Wichtiger noch als das Zeichen, das KSE 10th Anniversary Album (#331, CD-R) setzt, ist das, wofür es steht: Die 330 seit dem 1.3.2006 von Bill Shute publizierten Gedichtbändchen und Tonträger, die eine mehrhundertköpfige KSE-Familie entstehen ließen, die wiederum die Aufmerksamkeit von Tausenden in der ganzen Welt auf sich zog. Shute hat diese Zwischenbilanz quasi schon auf den Punkt gebracht mit seinem Chapbook "Good To Do, Good To Have Done" (#329), das in einem billigen Hotel in Galveston County entstand, mit Madame Blavatskys "Die Stimme der Stille" im Ohr. Wobei "Inventing One's Own Land (#317) ebenso gut als Überschrift passen würde. 
Zumal "You build your own unique audience if you are doing unique work" die wohl wichtigste Erfahrung ist, die ihm diese Dekade einbrachte. Wie also einen Mann nicht beglückwünschen, der von sich sagen kann: "When I was a teenager in high school back in the mid-70’s, I was carrying around LP’s by Alfred 23 Harth, Captain Beefheart, Anthony Braxton, Faust, John Cage, Kim Fowley, The Spontaneous Music Ensemble, and the like, and I still am today! My core has not changed, but my scope has enlarged and grown exponentially." Einen Mann, der Hotelzimmer, statt mit Bibeln, lieber mit Gedichtbänden von Pablo Neruda ausstatten würde. Einen Mann, der dringend rät: "If you compete with anyone, compete with the greats in your own pantheon of greatness, NOT with your contemporaries, and create create create." Die dazu die Zeichen setzen, sind ERNESTO DIAZ-INFANTE mit seiner Gitarre; BRENT FARISS, ein offenbar mit If, Bwana geistesverwandter Dröhnminimalist aus Austin; die von dort nach Ithaca, NY wie vom Regen in die Traufe umgezogene Perkussionistin SARAH HENNIES; MATT KREFTING aus Easthampton, der mit Scott Foust in Dead Girl's Party und Idea Fire Company gespielt hat;  der umtriebige Eric Hardiman aka RAMBUTAN in Albany; der sopraninoschrille MASSIMO MAGEE; die postraffaelitische VANESSA ROSSETTO, die einen auf elysische Felder entführt; Ex-The Shadow Ring-Gitarrist und Kye-Labelmacher GRAHAM LAMBKIN mit unheimlichem Geflüster; der ebenfalls texanische Soundscaper DEREK ROGERS, der sich auf sonore Wellen einschwingt; und nicht zuletzt ALFRED 23 HARTH, der mit 'Kepler 452-B' gleich mal einen eventuell habitablen Kandidaten für Terra-Migranten begrüßt. 
                                                                                                                             
Rigo Dittmann in BA 89